So viele Dinge
ruft ins Gedächtnis mir.
Die Kirschenblüte.
Bashô
(1644–1694)
Mono no aware - die sanfte Empfindsamkeit des Unbeständigen
Lebensgrund - Newsletter 61 / Juli 2024
Michael hat die Melodie seines Lebens verloren. So drückt er es aus. Seine Partnerin ist unerwartet gestorben. Wie soll er umgehen mit seiner bleibenden Liebe, die kein Gegenüber mehr hat? Darin sucht er Unterstützung. Er will und kann nicht aufhören zu lieben. Er möchte diese Melodie weiter hören, weiter mit seiner Partnerin verbunden bleiben, auch wenn sie gestorben ist. Michael beginnt, Flöten zu bauen. Er vertieft sich darin in die Suche nach der verlorenen Melodie. Er betrauert darin das Verlorene, durchlebt Schmerz und erinnert das Gemeinsame.
Ob sich in unserem Leben viel ändern würde, wüssten wir, wie viel Lebenszeit uns bliebe und wie viel Zeit wir mit unseren Lieben durchleben dürften? Ich weiss es nicht. In Zeiten, in denen wir die Lebenskraft bedroht erleben, bricht die Gewissheit in unser Leben ein, dass nichts ewig dauert und alles unvorhersehbar zu Ende sein kann. So erlebt es Michael.
Endlichkeit ist die existentiellste Wahrheit allen Lebens. Lebenssinn kann uns das Erkennen geben, endlich zu sein und dass alles, was wir lieben und erschaffen, in diesen Lauf der Zeit eingebunden ist. Werke mögen uns überdauern. Wir selbst überdauern uns nicht.
Wie können wir mit dem Wissen erfüllt leben, dass alles unbeständig ist und ein Ende hat? Lohnt es sich, in vergängliches Glück zu investieren? Was lässt uns lieben, wenn es doch unausweichlich ist, dass dieses Lieben enden wird? Mir scheint, als wollten wir in der Liebe der Vergänglichkeit trotzen.
Es ist ein brüchiger Trost, dass Liebe ewig erinnert. Auch Erinnerungen verblassen im Fluss der Zeit. Und doch lieben wir. Menschen. Orte. Tätigkeiten. Ideen. Leidenschaftlich. Mit Hingabe. Schöpferisch und visionär. Wie leben wir mit der Spannung von Liebeshingabe und Endlichkeit?
Trauern ist tiefstes Menschentum. Trauern ist die menschliche Regung, die Liebe und Endlichkeit verbindet. Weil wir lieben, können wir trauern. Weil wir trauern, können wir lieben. Nur was wir lieben und liebten, können wir betrauern. Auch unsere eigene Endlichkeit. In der Trauer bejahen wir, was ist und wer wir sind.
Manchmal befällt uns in tiefster Freude eine stille Melancholie. ‘Mono no aware’, die sanfte Empfindsamkeit des Unbeständigen, wie in Japan diese Gleichzeitigkeit von Freude, Genuss einer endlichen Schönheit und Trauer genannt wird. Sie findet im Anblick der zartschönen Kirschblüten ihre Entsprechung. Schönheit ist nicht anders zu bewahren, als in der Freude des Augenblicks.
Sowohl die Natur als auch die Welt der Menschen ist unbeständig und unfassbar, aber gerade dann, wenn man sich dem überlässt, ohne sich dagegen aufzulehnen oder dagegen anzugehen, wird man nicht untergehen.
Trauer ist Zustimmung, oft schmerzhaft. Sie schenkt uns eine heilende und tröstende Kraft, in Verlust und Schmerz an den Grund zu gehen, aber darin nicht zu Grund zu gehen. Trauer enthüllt, wer wir zutiefst sind und drängt uns immer wieder in neue Weisen unseres Seins. Nicht nur, den eigenen Verlust zu begreifen, sondern auch die neue Person, die wir in der Trauer geworden sind.
Es ist altes Menschenwissen: wer mit dem Geheimnis des Lebens in Berührung kommt, wird davon ergriffen und bewusster, wacher und dankbarer leben. Die Dankbarkeit für gelebtes Leben, für erfahrene und geschenkte Liebe, lässt uns diese Spannung zwischen Sein und Vergehen aushalten.
Nach drei Jahren öffnet sich Michael wieder für die Liebe zu einer anderen Frau. Die Melancholie, dass auch diese Liebe endlich ist, begleitet ihn in stillen Momenten.
Der Verfasser dieses Newsletters ist Thomas Feldmann, Luzern. Er ist Teil unseres Kursteams und führt mit seiner Frau Uta Feldmann in Luzern die Praxis www.lebenstraining.ch. Ebenso leitet Thomas die Caritas-Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase.
Herzlichen Dank für deine gehaltvollen Gedanken, lieber Thomas!
Mit einem sommerfrischen Gruss,
Antoinette Brem und Barbara Lehner
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