Die Augen schliessen.
Den Atem spüren.
Gar nichts tun,
denken, wollen, müssen.
Das wäre ein erster Schritt,
hin zu dieser heiligen Leere.
Zum grossen Ausatmen.
Zum Neuwerden.
Zum Wendepunkt,
der das Undenkbare
und ein tiefes Einatmen
ermöglicht.
(Barbara Lehner)
Einen Raum lassen - der frei ist und ledig von allem
Lebensgrund - Newsletter 55 / Dezember 2022
„Wie ist das zu verstehen mit der Jungfräulichkeit?“, fragte sie mich. Sie sah mich mit ihren alten und gütigen Augen an. Fragend, sinnierend, suchend. „Ich habe die Maria so gerne. Wirklich. Aber das macht mir Mühe. Es ist schwierig für uns normale Frauen,“ gab die Bewohnerin zu Bedenken. Ich war als junge Seelsorgerin gefragt.
„Hätten Sie denn Maria weniger gerne, wenn Maria wie alle Frauen ihr Kind bekommen hätte? Nachdem sie mit einem Mann zusammen war und mit ihm geschlafen hätte? Wäre Maria dann weniger wert in ihren Augen, wäre sie dann nicht mehr Mutter Gottes und Fürsprecherin bei Gott?“
Die alte Frau dachte einen Moment nach und ihr Gesicht hellte sich auf. „Nein, ich würde sie genauso lieben und verehren. Vielleicht sogar noch mehr. Weil sie dann wirklich eine von uns wäre. Eine, die das Ganze kennt, das Menschliche und das Göttliche. Sie bleibt auch eine besondere Frau. Die Mutter des Heilands, die alle Sorgen kennt.“
So war die erste Hürde gemeinsam geschafft. Gemeinsam gingen wir noch tiefer in die Frage hinein. Damals vor 20 Jahren. In jenem Gespräch zwischen der jungen Seelsorgerin und der lebensreichen Bewohnerin im Heim. Und so kamen wir bei der Jungfräulichkeit als Bild an. Als Bild dafür, dass es in jedem Menschen einen Raum gibt. Einen Raum für die Begegnung mit der letzten Wirklichkeit. Mit dem Geheimnis. Mit Gott.
Und dass dieser innere Raum aufleuchten kann, wenn Stille eintritt. Wenn uns etwas sehr berührt und anspricht. Wenn wir erahnen, dass wir mehr sind als dieser geschäftige Alltag. Wenn wir innehalten und eine Pause einlegen. Wenn wir ganz im Moment und bei uns ankommen. Wenn wir hellhörig werden und innerlich wach. Offen und verletzlich.
In diesem Raum können wir hineinsinken. Uns darauf ausrichten. Ihn pflegen. Dazu braucht es Ruhe. Immer wieder Momente des Rückzugs. Die Momente, in denen wir alles ablegen, was uns grad beschäftigt. Die Momente des Nichts. Wie die Stille zwischen zwei Atemzügen. Der Moment des Aufschauens von der Arbeit, bevor es wieder weiter geht. Das Betrachten der Kerze, die grad brennt. Das Atemholen am Fenster. Das Lesen und Verklingen lassen eines guten Textes. Der Moment, den ich mir nehme für eine Tasse Tee, für ein Gebet.
Dieser Raum, so fanden wir heraus, ist in uns. Und er muss leer sein, leer werden. Nur so kann Resonanz entstehen. Resonanz mit dem, was mir grad begegnet. Resonanz mit der Tiefe des Lebens. Mit dem Geheimnis. Mit dem Klang des Ewigen in allem.
Mehr als 20 Jahre später sind unsere Zwischenzeiten mehr denn je besetzt. Ein kleines Gerät macht es möglich. Nachrichten fluten ungefragt hinein. SMS fordern unsere Aufmerksamkeit. Mails wollen beantwortet werden. Spiele und Videos lenken uns ab… - Den Blick heben vom Bildschirm. Die Augen schliessen. Den Atem spüren. Und gar nichts tun, denken, wollen, müssen. Das wäre und ist schon Wohltat. Bitter notwendig. Ein erster Schritt. Hin zu dieser heiligen Leere. Zum grossen Ausatmen. Zum Neuwerden. Zum Wendepunkt, der das Undenkbare ermöglicht. Die Zeit zwischen den Jahren ist eine wunderbare Einladung, genau dies zu tun.
In diesem Sinn wünschen wir ein grosses Ausatmen und kräftiges Einatmen in dieser stillen Zeit und im Jahresübergang.
Barbara Lehner und Antoinette Brem
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