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Jedes Entdecken der Welt

kann uns

in ein radikales Staunen

versetzen,

das die Schleier der Trivialität

zerreisst.

 

Dorothee Sölle

 

Radikales Staunen

Lebensgrund - Newsletter 53 / Juli 2022

Wir waren wieder einmal in eines unserer offenen Suchgespräche verwickelt, als Karl, mein damals 93jähriger Freund, der immer noch Fragen stellte, plötzlich meinte: Weisst du, ich kann mir noch so Mühe geben, aber irgendwie ist es mir nicht möglich, religiöse Gefühle zu haben. Und erst recht ist es für mich schwierig, etwas so Grosses wie Gott zu denken oder mir vorzustellen. Ob er denn so Momente erlebe, in denen er sich in etwas Grösserem aufgehoben fühle, fragte ich ihn.

Nach einem kurzen Nachdenken kam ein Leuchten in sein Gesicht. „Hmm, wenn ich so zurückblicke, kommt mir der Vierwaldstättersee in den Sinn. Über sechzig Jahre bin ich -zig Kilometer auf diesem See gerudert. Ich kenne jeden Winkel dieses Sees und habe seine Topographie immer wieder aufs Neue bewundert und studiert. Wenn ich im Boot sass und im Gleichklang mit den Anderen ruderte, gab es immer wieder Momente, in denen es mich richtig ergriffen hat: dieses Staunen. Ich, der kleine Mensch, mit meinen wenigen Jährchen, nahe der Wasseroberfläche sitzend und da die gewaltigen und jahrtausendealten Gesteinsmassen der Urnerberge, die sich neben mir erhoben. Welche Kräfte da die Materie geformt haben mussten! Und welche Schönheit, lange vor mir entstanden und doch immer wieder neu vor meinen Augen. – Irgendwie berührte mich das bis ins Innerste, weitete mein Herz, liess meine Zellen erschaudern, nahm mir die Sprache. – So ein komischer Kauz bin ich!“

„Vielleicht ist“ antworte ich ihm, «genau dies dein Zugang zum Grösseren, Göttlichen: Dein Staunen über diese Schöpfung, den Vierwaldstättersee, die Berge.“

Und ich erzählte ihm von einer meiner Lieblingstheologinnen, von Dorothee Sölle. Radical Amazement, radikales Staunen habe Dorothee Sölle in ihrem letzten Vortrag zum Thema „Glück ist mein Grundgefühl“ diesen einen mystischen Zugang zu Gott genannt. «Am Anfang [der mystischen Reise] steht das Staunen, das Verwundertsein: wir erfahren etwas, was wir noch nicht gekannt oder gewusst haben. […] Jedes Entdecken der Welt und eines ihrer geringsten Teile kann uns in einen Jubel stürzen, in ein radikales Staunen, das die Schleier der Trivialität zerreisst. Nichts ist selbstverständlich und am allerwenigsten die Schönheit.»

Damit konnte mein Freund etwas anfangen. Er blickte hinter die Bilder dessen, was er in jungen Jahren über «Gott» im Religionsunterricht gelernt hatte und nie wirklich mit seinem Leben verbinden konnte. In unserem Gespräch erschloss sich ihm plötzlich so etwas wie seine Gottesmomente: all jene Momente des Berührtseins und Staunens, der Dankbarkeit, und Ehrfurcht vor der Schönheit des von ihm so sehr geliebten Sees. So war «Gott» unzählige Male in seinem Leben präsent.

Daran musste ich denken, als mich vor kurzem folgendes Gedicht von Brigitte Enzner-Probst gefunden hat:

 

In uns berühren sich Himmel und Erde

 

Die Erde berühren                                                                          

Ihre Oberfläche streicheln                                                               

Grasiges unter den Füssen spüren                                                   

Das gurgelnde Schmatzen des Moores                                            

Flinkes Wasser an den Füssen vorbei                                              

Den Sand der Dünen in den Zehen behalten                                   

Einen Sommer lang                                                                          

                                                                                                          

Die Erde spüren                                                                              

auch ihre Abgründe lieben                                                               

Schroffe Zacken inwendige                                                              

Felsige Platten                                                                                 

Haut schürfend                                                                                 

Dunkel-Höhliges                                                                              

Das zum Verirren einlädt                                                                  

                                                                                                         

Die Erde berühren                                                                            

Sagt sich so leicht

sich bücken beugen

sich klein machen

zurückkehren umkehren

sich hinsetzen und Ruhe geben

sich ausstrecken und probeliegen

längelang nächtelang

 

Die Erde berühren

Verwandlung erbitten

Lasten ablegen

Sorgensteine kullern lassen

Sich aufrichten

Aufstehen

Sich aufrichten

Zur Sonne hin

Aufrecht stehen

Jetzt

 

Den Himmel erreichen

 

In uns

Jeden Morgen

Berühren sich

Erde und Himmel.

 

Ein wunderbares Sommer-Gedicht, das dazu einlädt, in der Ferienzeit tief einzutauchen in die erhabene Schönheit der Natur! Wir wünschen uns und euch allen von Herzen kostbare Momente des radikalen Staunens und ein Aufatmen mit Leib und Seele, wie sie meinem Freund Karl geschenkt worden waren.

In herzlicher Verbundenheit

Barbara Lehner und Antoinette Brem

 

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Ausblick auf einige Kurse und Veranstaltungen: (Infos bei welcome@lebensgrund.ch)

Beginn Ausbildungslehrgang Shibashi Qi Gong, MI 7. Sept. 2022, in Luzern

Beginn Basisstufe Familientrauerbegleitung, DO 15. - SA 17. Sept. 2022, in Luzern

Einführungskurs Shibashi Qi Gong „Meditation in Bewegung“, 23. – 25. Sept. 2022, Lassalle-Haus

Follow up Methodenvertiefung Trauerbegleitung „Das Wesentliche erhorchen – Naturbegegnung anregen und spiegeln lernen, SA/SO 24./25. Sept. 2022, in Luzern

Beginn Lehrgang Trauerrituale,  DO 27. – SA 29. Okt. 2022, zentrumRANFT, Flüeli-Ranft

Follow up Themenvertiefung Trauerrituale „Von der Weisheit der Umwege und der Grösse im Alltäglichen – Leben neu betrachten und würdigen im Spiegel der 4 Pfade der Schöpfungsspiritualität“, FR/SA 4./5. Nov. 2022,in Luzern

Systemische SELBST-Integration „In der Klarheit liegt Kraft“, 12. Nov. 2022, in Luzern

Trauerseminar "Mit dem Verlust leben lernen", FR 18. - SO 20. Nov. 2022, zentrumRANFT, Flüeli-Ranft

☼ Einführungskurs Shibashi Qi Gong „Meditation in Bewegung“, FR 2. – SO 4. Dez. 2022, Kloster Kappel, Kappel am Albis

erdverbunden himmelwärts: ein Tag mit Harmonizing Heaven and Earth Qi Gong, DI 13. Dez. 2022, in Luzern